Forschungspreise der Fakultät
Promotionspreise und Preise für wissenschaftliche Abschlussarbeiten
für eine besonders herausragende geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Dissertation
2023 – Marco Schendel (Philosophie)
2022 – Jaroslaw Jasenowski (Anglistik)
2021 – Antonios Souris (Politische Wissenschaft)
2020 – Anna Zeitler (Medienwissenschaft)
2019 – Cedric Akpeje Essi (Amerikanistik)
2018 – Inga Bones (Philosophie)
2017 – Anne Kathrin Schmiedl (Sinologie)
2016 – Anna-Maria Seemann (Buchwissenschaft)
2015 – Alla Klimenkowa (Romanische Philologie)
2014 – Christian Schmidt (Amerikanistik)
2013 – Viktoria Gutsche (Germanistik)
2012 – Daniel Potthast (Islamwissenschaft)
2011 – Christian Däufel (Germanistik) und Natalie Boonyaprasop (Anglistik)
für eine besonders herausragende sozial- bzw. humanwissenschaftliche Dissertation
2021/22 – Kyra Göbel (Psychologie)
2019/20 – Alexander Ziegler (Soziologie)
2017/2018 – Ina Schildbach (Politische Wissenschaft)
2015/2016 – Simone Pilz (Pädagogik)
2013/2014 – Tamara Hagmaier (Psychologie)
2011/2012 – Susanne Bruckmüller (Psychologie)
für eine besonders herausragende sozial- bzw. humanwissenschaftliche Dissertation
2014 – Susanne Grosser
2020 – Sebastian Schmidt
2023 – Katharina Weinmann (Soziologie)
2022 – Cosima Herbst (Psychologie)
2021 – Jonas Simmerlein (Praktische Theologie)
2020 – Kristina Becker (Psychologie)
2019 – Felix Geißler (Englische Literaturwissenschaft)
2018 – Reinhold Adrian Erdt (Politische Wissenschaft)
2017 – Nadja Kutscher (Politische Wissenschaft)
2016 – Sebastian Schmidt (Philosophie)
2015 – Sophia Schnuchel (Romanische Philologie)
2014 – Julia Gnibl (Pädagogik)
2013 – Karoline Stiefel (Medienwissenschaft)
2012 – Laura Geyer (Ur- und Frühgeschichte)
2023 – Verena Gerbeth (Kunstgeschichte)
2022 – Anna Ißleib (Germanistik)
2021 – Christina-Maria Wiesner (Archäologische Wissenschaften – Ur- und Frühgeschichte)
2020 – Eva Schmidt (Germanistik)
2019 – Konstantin Weber (Philosophie)
2018 – Karolin Berg (Theater- und Medienwissenschaft)
2017 – Joachim Peters (Ethik der Textkulturen)
2016 – Constanze Lörner (Lehramt Gymnasium – Deutsch)
2015 – Anna Mareke Kampen (Theater- und Medienwissenschaft)
2014 – Magdalena Abele
2013 – Mareike Transfeld (Politische Wissenschaft)
2012 – Nicole Hauke (Psychologie)
2022 – Yazan Kasrawi (Nahoststudien) und Andreas Knöll (Islamwissenschaft)
2020 – Matthias Emmert und Theresia Leis
2018 – Katharina Elisabeth Nicolai (Nahoststudien / Middle Eastern Studies)
2016 – Wolfgang Schäfer (Politische Wissenschaft) und Friederike Fehlig (Orientalistik)
Preis für herausragende Forschung von Frauen in den Geistes- und Sozialwissenschaften
2023 – PD Dr. Sarah Schulz (Institut für Altes Testament) und Dr. Janina Stürner-Siovitz (Institut für Politische Wissenschaft)
2021 – Prof. Dr. habil. Hanna Eglinger (Komparatistik (Vergleichende Literaturwissenschaft) mit dem Schwerpunkt nordeuropäische Literaturen/Skandinavistik)
2019 – Prof. Dr. Annette Gilbert (Komparatistik)
2023 – Dr. Larissa Pfaller (Institut für Soziologie)
2021 – Ingrid Titzler (Klinische Psychologie und Psychotherapie)
2019 – Dr. Eva Odzuck (Politische Philosophie) und Dr. Anna-Carlotta Zarski (Klinische Psychologie und Psychotherapie)
Habilitationspreis der Friedrich-Alexander-Universität
2023
Kurzzusammenfassung
„Biopsychologische Untersuchungen der Wechselwirkung zwischen Stress und kognitiven Funktionen im Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit“
Stress ist ein weitverbreitetes Phänomen, das wahrscheinlich jede/r schon einmal erlebt hat. In Stresssituationen werden im Körper eine Vielzahl von biologischen Prozessen wie u. a. die Freisetzung von Stresshormonen in Gang gesetzt. Dies kann langfristig die Entstehung von physischen und psychischen Erkrankungen begünstigen. Eine reine Betrachtung von subjektiv erlebtem Stress, d. h. dem Gefühl gestresst zu sein, reicht nicht aus, da „sich gestresst zu fühlen“ nicht notwendigerweise bedeutet, dass es zu einer körperlichen Stressreaktion kommt.
In ihrer kumulativen Habilitationsarbeit mit dem Titel „Biopsychologische Untersuchungen der Wechselwirkung zwischen Stress und kognitiven Funktionen im Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit“ beschäftigte sich Dr. Linda Becker mit dem Zusammenhang zwischen Stress und kognitiven Funktionen sowie mit dem Zusammenhang zwischen Stress und weiteren gesundheitsrelevanten Variablen wie körperlicher Aktivität. Dieser Zusammenhang wurde aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: Zum einen wurde untersucht, ob sich kognitive Fähigkeiten in Stresssituationen verändern und wie dies mit biologischen Stressreaktionen zusammenhängt. Zum anderen wurden kognitive Funktionen als Schutzfaktor für die Entstehung von biologischen Stressreaktionen betrachtet. Darüber hinaus wurden Stressreaktionsmuster in kognitiven Beanspruchungssituationen (wie z. B. bei Multitasking-Anforderungen) untersucht.
In der Habilitationsarbeit wird zunächst ein Überblick über die Messung von Stress und der Induktion von akutem Stress gegeben. Im Anschluss werden Arbeiten vorgestellt, in denen biologische Stressreaktionen für unterschiedliche Stressoren (z. B. Krafttraining und Multitasking) untersucht wurden. Anschließend wird der Zusammenhang zwischen akuten biologischen Stressreaktionen und kognitiven Funktionen betrachtet. Darauffolgend werden chronischer Stress, sein Zusammenhang mit kognitiven Funktionen im Alter, chronischer Stress im Kontext von spezifischen Erkrankungen (wie chronischem Tinnitus) sowie Interventionsmöglichkeiten zur Stressreduktion behandelt. Dabei wird der Schwerpunkt auf Bewegungsinterventionen gelegt. Nach einer Zusammenfassung schließt die Arbeit mit einem Ausblick auf weitere Forschungsprojekte sowie Implikationen. Insgesamt wurden 18 Arbeiten in die kumulative Habilitationsarbeit eingeschlossen, die im Zeitraum von 2019 – 2022 veröffentlicht wurden.
Spektakuläre Gewaltakte. Das Russische Reich und das erste globale Zeitalter des Terrorismus, 1880–1914
Die Habilitationsschrift analysiert die Geschichte spektakulärer Gewaltakte im ersten globalen Zeitalter des Terrorismus. In den Jahren 1880 bis 1914 suchten radikalisierte politische Gruppierungen weltweit mit Anschlägen und Attentaten öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Anliegen zu lenken. Ihre Gewaltakte lösten globale Reaktionen aus: Sowohl die Medien als auch die Politik bis hin zu politischen Aktivistinnen und Aktivisten rezipierten die Nachrichten über die Gewalt, äußerten ihren Abscheu oder ihre Bewunderung.
Die Arbeit erzählt die Globalgeschichte des Terrorismus ausgehend vom Russischen Reich und damit von einem Staat, der Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zum Dreh- und Angelpunkt globaler Debatten über Ursachen, Konsequenzen und Legitimität terroristischer Gewaltformen wurde. Bis heute gilt das Russische Reich als Ursprungsland des modernen Terrorismus. Global war das erste Zeitalter des Terrorismus vor allem in der medialen Vermittlung und im Bewusstsein der Zeitgenoss*innen. Terroristische Attentate lösten öffentliche Reaktionen aus, die weit über den Horizont der Erwartungen der Attentäterinnen und Attentäter hinausreichten. Die Debatten im Anschluss an die Gewaltakte verweisen damit auf tiefe innergesellschaftliche und internationale Konflikte in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
2022
Kurzzusammenfassung
„Keimbahneingriffe im Namen der Freiheit? Eine Kritik der „liberalen Eugenik“ aus Perspektive der Politischen Theorie“
Liberale Demokratien müssen in der Technologiepolitik Richtungsentscheidungen treffen, die die weitere Entwicklung der Demokratie erheblich beeinflussen werden. Solchen Richtungsentscheidungen müssen anspruchsvolle, intensiv geführte öffentliche Debatten über die Chancen, die Herausforderungen und die verantwortliche Gestaltung emergierender Technologien vorausgehen.
Die Habilitationsschrift leistet mit einer Analyse und Ergänzung des Freiheitsbegriffes liberaler Demokratien einen Beitrag zur dringend notwendigen öffentlichen Debatte im Bereich der emergierenden Biotechnologien. Mit der auch als Genschere bezeichneten CRISPR-Cas9-Technologie ist die Möglichkeit, vorgeburtlich Änderungen am Erbgut zukünftiger Personen vorzunehmen, technisch näher gerückt. Um zu beantworten, ob und unter welchen Voraussetzungen derartige Eingriffe in liberalen Demokratien jemals erlaubt, oder gar geboten sein könnten, müssen demokratische Grundwerte expliziert werden. Eine im Diskurs einflussreiche Position plädiert im Namen größerer elterlicher Reproduktionsfreiheit und im Namen erhöhter Freiheitschancen genetisch verbesserter Individuen für die Zulässigkeit vorgeburtlicher Eingriffe in das Erbgut zukünftiger Menschen. Die Habilitationsschrift setzt sich kritisch mit dieser Position einer „liberalen Eugenik“ auseinander und entwirft alternativ einen komplexen Freiheitsbegriff, der die körperliche und soziale Dimension von Freiheit ernst nimmt.
Die Hauptthesen der Arbeit lauten: Es ist nicht ausreichend, Freiheit als bloße Verfügungsmöglichkeit über Ressourcen oder Optionen zu verstehen. Ein komplexer Freiheitsbegriff muss einerseits das Selbstverhältnis einer Person, die immer auch als körperliche Person zu denken ist, berücksichtigen (ohne Selbstachtung und Könnensbewusstsein ist niemand frei).
Zum Anderen müssen die sozialen Voraussetzungen dieses für Freiheit notwendigen Selbstverhältnisses mitbedacht werden: Eine gesetzliche Erlaubnis zur Verfügung über die Körperlichkeit zukünftiger Menschen drückt zunächst wenig Respekt für die Selbstbestimmung des zukünftigen Menschen aus und könnte deshalb die Selbstachtung zukünftiger Menschen (als frei und gleich) gefährden. Wenn wir vom bürgerlichen Standpunkt potenzieller Gesetzgeber aus darüber nachdenken, ob und welche Eingriffe in das Erbgut zukünftiger Menschen wir gesetzlich zulassen sollten (sofern die Techniken einmal hinreichend sicher wären), dann sollten wir dies auf Basis eines komplexen Freiheitsbegriffes tun, der das Selbstverhältnis einer auch körperlich verstandenen Person (wie auch die sozialen und öffentlichen Dimensionen und Ermöglichungsbedingungen dieses Selbstverhältnisses) berücksichtigt.
Kurzzusammenfassung
„Studien zur Entwicklung des Jeruslamener Hohepriesteramtes vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr.“
Anhand biblischer und außerbiblischer Quellen rekonstruiert Sarah Schulz in ihrer Habilitationsschrift die Geschichte des Jerusalemer Hohepriesteramtes vom 6. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. v. Chr. Das Amt des Jerusalemer Hohepriesters gehört zu den zentralen Institutionen für die Religionsgeschichte Judas in der Perserzeit und der hellenistischen Zeit, die in dieser hinsichtlich der Ausbildung diverser „Judentümer“ entscheidenden Phase zugleich eine Art Brennpunkt für die identitätsbildenden Prozesse und die damit einhergehenden theologischen Diskurse im zeitgenössischen antiken Judentum darstellt. Entstanden im Zusammenhang mit dem Bau des Zweiten Tempels Ende des 6. Jh. v. Chr. (oder kurz danach), existierte das Amt nahezu ununterbrochen fort bis 70 n. Chr. Während dieser langen Phase veränderte sich sein Profil zusammen mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in Judäa, das unter der Herrschaft und dem Einfluss wechselnder Mächte (Perser, Ptolemäer, Seleukiden) stand. Dass sich das Amt des Jerusalemer Hohepriesters im Lauf der Zeit zu einem politischen Führungsamt entwickelte – einem Amt, dessen Inhaber nicht nur exklusive Autorität in kultischen Angelegenheiten hatte, sondern darüber hinaus hegemoniale Macht für sich beanspruchen konnte, die es ihm ermöglichte, politische Prozesse zu steuern und zu beeinflussen – lässt sich spätestens im Rückblick von der Herrschaft der Hasmonäer aus betrachtet feststellen, die als Hohepriester den Königstitel für sich beanspruchten.
Sarah Schulz rekonstruiert in ihrer Arbeit die Entwicklung dieses Amtes, indem sie für die Fragestellung relevante biblische und parabiblische Texte literarisch analysiert und deren (religions-)historischen Kontext anhand der verfügbaren Quellen (vor allem des archäologischen Befundes der sog. Jehud-Münzen sowie außerbiblischer judäisch-jüdischer, hellenistisch-jüdischer oder hellenistischer Schriftzeugnisse) zu erhellen sucht.
Sie stellt mit ihrer Arbeit die etablierte Hypothese, dass sich das Jerusalemer Hohepriesteramt bereits in der Perserzeit oder der frühen hellenistischen Zeit zu einem politischen Leitungsamt entwickelte, in Frage und entwickelt eine eigene Hypothese zur Geschichte dieses Amtes. Entscheidend dafür ist, dass die relevanten biblischen Texte, die sonst meist wenig differenziert in der Perserzeit bzw. der frühen hellenistischen Zeit verortet werden (vor allem Hag und Sach 1–8; Esr 1–6; Gen 14; Ps 110), über einen langen Zeitraum von der mittleren Perserzeit bis zur hasmonäischen Zeit entstanden sind. Durch die Kombination dieses differenzierten literargeschichtlichen Befundes mit der Analyse der außerbiblischen Quellen lässt sich plausibel machen, dass die Politisierung des Jerusalemer Hohepriesteramtes erst im 2. Jh. v. Chr., und somit sehr viel später als gemeinhin angenommen, eingesetzt hat. Dies könnte dafür sprechen, dass nationale Selbstbestimmung und politische Souveränität keine Aspekte waren, die bei der Konstruktion kollektiver jüdischer Identität in der Perserzeit und der frühen hellenistischen Zeit eine zentrale Rolle spielten. Die Arbeit eröffnet somit neue Perspektiven auf ein zentrales Phänomen der (Religions-)Geschichte des antiken Judentums.
2021
Kurzzusammenfassung
„Subjekt und Bildung im Kontext globaler Transformationsdynamiken – grundlagentheoretische, methodologische und empirische Beiträge zur kritischkulturwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft“
Seit einiger Zeit lässt sich vielerorts ein deutliches Interesse an erziehungswissenschaftlichen Theorien der Subjektivierung ausmachen. So zeigen sich neue und engagierte Diskurse zur Notwendigkeit erziehungswissenschaftlicher Reflexionen ungleicher gesellschaftlicher Verhältnisse sowie damit verbundenen Prozesse aktueller Subjektwerdung (Ricken et al. 2019). Sie gehen der Frage nach, wie die Erziehungswissenschaft an dem Werden von Menschen zu dem, was sie bereits sind oder noch werden könn(t)en beteiligt ist oder künftig beteiligt sein könnte. Dabei werden insbesondere gesellschaftliche Bezüge der Subjektwerdung (kritisch) in den Blick genommen. Hier setzt die vorgelegte, kumulative Habilitation an und erarbeitet grundlagentheoretische, methodologische sowie empirische Beiträge zur Relationalität und Materialität von Bildungsprozessen. Diese begründeten ihrerseits einen Bedarf an entsprechender systematischer Weiterentwicklung erziehungswissenschaftlich-qualitativer Methodologie (Althans/Engel 2016a; Engel et al. 2021a). In meinen Arbeiten gehe ich daher von der Frage aus, wie sich neue Felder des Sicht und Sagbaren eröffnen lassen und somit die Vulnerabilität ungleicher Subjektpositionierungen im Kontext von Globalisierungsprozessen reflektieren lässt.
Kurzzusammenfassung
Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der Questione della lingua
Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung. Von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601)
Die Habilitationsschrift geht anhand der Vor-Geschichte des für die historische romanische
Sprachwissenschaft einschlägigen Begriffs ‚Vulgärlatein‘ im Rahmen einer innovativen sozio- und varietätenlinguistischen Perspektivierung der Frage nach, wie sich in der frühneuzeitlichen Sprachreflexion in Italien die Sicht auf Sprachvariation entwickelt hat.
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass im Zuge der Questione della lingua, des Ringens um eine geeignete Literatursprache in Italien, die Frage virulent wird, ob Sprachen einheitliche und unveränderliche Entitäten sind oder ob sie nicht eher als Diasysteme aus unterschiedlichen geographisch, sozial usw. markierten Varietäten zu fassen wären. Die Herausbildung eines – heute völlig selbstverständlichen – differenzierten Verständnisses von Sprachen muss damit, anders als bisher, als integraler Bestandteil der Sprachenfrage im Renaissance-Italien gesehen und die Questione della lingua insoweit systematisch auf die Relevanz des Phänomens ‚Sprachvariation‘ hin analysiert werden. Im Ergebnis konnte insbesondere gezeigt werden, dass sich im italienischen Renaissance-Diskurs das Verständnis von Sprachen als Varietätengefügen nur langsam und keineswegs systematisch entwickelt hat, zumal die zeitgenössischen Autoren teilweise sehr unterschiedliche Variationsdimensionen in Anschlag bringen. Dabei wurden auch stark divergierende Auffassungen von sprachlicher Historizität, Sprachkontakt und -wandel und deren Verhältnis zueinander vertreten. Keineswegs der zeitgenössischen Wahrnehmung entsprochen hat schließlich die in der Forschung gängige Unterscheidung zwischen einer Questione della lingua in einem „weiteren“ bzw. „engeren“ Sinne, die insoweit den Blick unangemessen verkürzt.
2020
Kurzzusammenfassung
Schulgottesdienste in der Pluralität. Theoretische Grundlegung, konzeptionelle Bestimmungen und Handlungsorientierungen
Schulgottesdienste, die in vielen Bundesländern das Schulleben prägen, sind ein plurales Phänomen: Große Unterschiede gibt es etwa bezüglich der Anlässe, der Zielgruppen, der Teilnehmenden-Anzahl, der liturgischen Gestaltung, der Veranstaltungsorte und der aktiv Beteiligten. In ihrer Vielfältigkeit werden sie dadurch herausgefordert, dass religiöse wie weltanschauliche Pluralität in Schule und Gesellschaft zunehmen. Auch wenn Schulgottesdienste in den Regionen, in denen sie etabliert sind, nur selten einer Grundsatzkritik unterzogen werden, ist u.a. zu fragen: Inwiefern lassen sie sich als Angebote christlicher Glaubenspraxis an öffentlichen Schulen rechtfertigen bzw. begründen? Sind nicht ggf. andere Formen (religiöser) Feiern angemessener? Welche Maßstäbe gibt es für die Qualität entsprechender Angebote? Und nicht zuletzt: In welche Richtung sollte das (religiöse) Schulleben in Zukunft weiterentwickelt werden?
In der Habilitationsschrift „Schulgottesdienste in der Pluralität“ entwickelt Tanja Gojny erstmals eine Theorie des Schulgottesdienstes. Hierfür verortet sie das Phänomen zunächst multiperspektivisch in aktuellen praktisch-theologischen, liturgischen, rechtlichen sowie religions- und schulpädagogischen Diskursen. Diese systematisierende Diskurs-Inventarisierung mündet in der Charakterisierung von Schulgottesdiensten als Zwischenräume zwischen Kirche und Staat, Individuum und Institution, öffentlichem und nicht öffentlichem Raum sowie als Zwischenzeiten besonders bei Unterbrechungen des Schullebens durch Tod und Trauer sowie an den Schwellen der (Bildungs-)Biografie. Hiervon ausgehend setzt sich die Autorin mit der Frage nach „guten“ Gründen für Schulgottesdienste auseinander.
Dabei werden die unterschiedlichen Begründungen nach drei wesentlichen Richtungen hin entfaltet – im Hinblick auf die Schüler*innen, die Institution Schule und damit auch auf die Gesellschaft sowie auf die Institution Kirche. Es wird deutlich, wie auch berechtigte Begründungs- und Zielperspektiven bisweilen in Spannung zueinander geraten, z.B. die Betonung der Zweckfreiheit von Gottesdienst auf der einen und funktionale Bestimmungen wie die seelsorgerliche und rituelle Begleitung der Schüler*innen oder die Übernahme zivilgesellschaftlicher bzw. -religiöser Aufgaben auf der anderen Seite.
Die Überlegungen münden in die Entwicklung eines kontextbezogenen Modells des Spielraums Schulgottesdienst zur genaueren Wahrnehmung, Reflexion und auch als Basis zur pluralitätsfähigen Weiterentwicklung dieses Angebots. Dabei werden unterschiedliche Qualitätsdimensionen beleuchtet und auch hier wieder Spannungsfelder herausgearbeitet: Im Zusammenhang der Konzeptqualität wird etwa die Frage nach geeigneten Feierformen in der Spannung zwischen Identität und Verständigung diskutiert, im Kontext der Strukturqualität u.a. die Frage nach geeigneten Räumen in der Spannung zwischen Sakralität und Profanität und im Rahmen der Prozessqualität u.a. die Frage nach der Bedeutung der aktiven Beteiligung von Schüler*innen in der Spannung zwischen der Ermöglichung von innerer Beteiligung und Distanznahme. Die Ergebnis- bzw. Erlebensqualität fragt schließlich nach Kriterien für die konkrete Gestaltung z.B. der Musik in der Spannung zwischen Zielgruppenorientierung und Qualitätsanspruch. Ein Blick auf „verwandte“ Feierformen wie multi- oder allgemeinreligiöse Feiern komplettiert im Sinne religiöser Pluralitätsfähigkeit diese umfassende Untersuchung des Schulgottesdienstes als Brennpunkt religiösen Lebens an Schulen, der auch religionspolitisch relevant ist.
Kurzzusammenfassung
In der Arbeit „Space Race Television. Medialisierung Ost/West (1955-1975)“ wirft Sven Grampp eine medientheoretisch ausgerichtete Perspektive auf das Space Race. Konkret heißt das: Es erfolgt eine medienkomparatistische Untersuchung ausgewählter Medienprodukte, bei der Abgrenzungen, Übernahmen, Vergleiche, Verflechtungen und Zirkulation audiovisueller Kommunikationsangebote als spezifische Medialisierung beobachtet werden. Die Quellen, die zum Nachvollzug dieses Prozesse näher untersucht wurden, sind sehr unterschiedliche mediale Produkte. Analysiert werden insbesondere Spielfilme, Dokumentationen, Live-Berichterstattung im Fernsehen, Magazine, Briefmarken, Plakate, Konfettiparaden, die im Kontext des Space Race situiert sind. Primär entstammen die Untersuchungsgegenstände sowjetischer bzw. US-amerikanischer Provenienz. Daneben wird zusätzlich immer wieder auf Berichterstattungen aus Ost- und Westdeutschland zurückgegriffen.
Das Ziel der Arbeit besteht zum einen darin aufzuzeigen, dass die zentralen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen in ‚Ost‘ und ‚West‘ aus gegenseitigen Beobachtungen resultieren. Dabei soll einsichtig gemacht werden, wie sich der Beobachtungsmodus zweiter Ordnung als dominanter Beobachtungs- und insbesondere visueller Darstellungsmodus einer reflexiv werdenden Globalisierung stabilisierte und allmählich ausdifferenzierte. Zum anderen wird die These vertreten, dass – trotz aller Vielfalt medialer Produktionen und Darstellungen – den televisuellen Bildern zentrale Relevanz im Kontext der Beichterstattung über Weltraummissionen zukommt, insofern das (Satteliten-) Fernsehen als Leitmedium des Space Race figuriert.
2019
Kurzzusammenfassung
In ihrer Habilitationsschrift „Vehicle of Mantic Arts? — Zum Verhältnis von Buddhismus und Divination in China“ analysiert PD Dr. Esther-Maria Guggenmos erstmals systematisch das Verhältnis von chinesischem Buddhismus zu Wahrsagung. Der Wahrsagung wird in der buddhistischen Ordensdisziplin mit Zurückhaltung begegnet, und erst die jüngere Buddhismusforschung setzt einen stärkeren Fokus auf soziale Praxis gegenüber dem Interesse an Philosophie und Meditation. Mit der Ersterschließung von Quellenmaterial eröffnet Guggenmos damit Einblick in dieses Themengebiet und reflektiert die Fragestellung in dreifacher, lehrbezogener, ritueller und biographischer Perspektive: Sie analysiert, inwieweit buddhistische Texte Wissen über mantische Praktiken legitimierten und konservierten und wie sie im Laufe der Übersetzungsgeschichte versuchten, dieses Wissen kontextuell zu aktualisieren. Einen Einblick in rituelle Praktiken von Laienbuddhisten und transasiatischen Austausch bietet die Erarbeitung nomineller, doktrinärer und praxisorientierter Adaptationsmodi des buddhistischen Tempelorakels. Die Übersetzung von Auszügen aus einer Sammlung von Biographien wundertätiger Mönche aus dem 15. Jahrhundert zusammen mit Dr. Li Wei (Hangzhou) sowie die umfassende Reflexion durch Guggenmos bieten erstmals einen Überblick über Formen buddhistischer Wahrsagung als einer gesellschaftlich anerkannten, oft höfischen Praxis chinesischer Mönche—von der Beratung am kaiserlichen Hofe, über den wahrsagenden Beistand bei Karrierefragen von Beamtenanwärtern bis hin zur Reiseberatung (Wahrsagende Mönche im chinesischen Buddhismus, Ostasienverlag 2019).
Kurzzusammenfassung
Die Arbeit „Kompetenzfacetten literarästhetischer Sprachreflexion“ beschäftigt sich im Sinne fachdidaktischer Grundlagenforschung mit der theoretischen Modellierung und empirischen Überprüfung sprachreflexiver Teilfähigkeiten für den Umgang mit literarischen Texten. Für die Herleitung dieser Teilkompetenzen an der Grenze von Sprach- und Literaturdidaktik wurden Diskurse aus Sprachdidaktik, kognitionspsychologischer Textverstehenstheorie, Literaturtheorie und -empirie sowie Literaturdidaktik herangezogen, wobei sich Ecos Literatursemiotik als besonders fruchtbar erwies. In dem so entwickelten dreidimensionalen Kompetenzmodell werden die Dimensionen „literarästhetische Sprachwahrnehmung“, „Erfassen der Textstrategie“ und „formspezifisches Fachwissen“ unterschieden. Diese Kompetenzstruktur wurde durch Reanalysen von Daten aus dem DFG-Projekt „Literarästhetische Urteilskompetenz“ (Frederking/ Meier/ Stanat/ Roick) aus dem Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle“ empirisch überprüft. Im Rahmen dieses Projekts wurden Aufgaben zu den Kompetenzfacetten entwickelt und bei 964 Schülerinnen und Schülern der 10. Jahrgangsstufe an bayerischen Gymnasien und Realschulen eingesetzt. In konfirmatorischen Faktorenanalysen zeigte das dreidimensionale Kompetenzmodell im Vergleich zu alternativen Modellen die beste Anpassung an die Daten.
In Analysen zur Konstruktvalidität wurden darüber hinaus Vorhersagefaktoren für diese Teilkompetenzen untersucht. Neben Geschlecht, Schulform und Sprachhintergrund erwiesen sich v.a. die Wortschatzleistung, das Interesse für die Form literarischer Texte, allgemeine Sprachbewusstheit sowie Kognitions- und Emotionsbedürfnis als interessante Prädiktoren mit spezifischen Zusammenhangsprofilen zu einzelnen Kompetenzfacetten. Diese Variablen stellen damit geeignete Ansatzpunkte für eine differenzierte Förderung der betreffenden Kompetenzfacetten dar und sinnvolle Gegenstände für eine auf derartige Grundlagenforschung aufbauende empirische Unterrichtsforschung.
2018
Kurzzusammenfassung
Die kumulative Habilitation von David Daniel Ebert mit dem Titel „Digitale diagnostische Instrumente und psychologische Interventionen“ umfasst 26 peer-reviewed Publikationen. Sie fokussiert auf die Entwicklung und Evaluation der Wirksamkeit, Kosteneffektivität, Mechanismen sowie Moderatoren des Therapieerfolges digitaler Gesundheitsinterventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit. Diese Arbeiten sind von hoher Relevanz, denn zwar existiert umfangreiche Evidenz, dass Psychotherapien effektiv in der Behandlung bei einer Reihe von psychischen Störungen sind, zahlreiche Betroffene mit psychischen Beschwerden werden vom derzeitigen Gesundheitssystem allerdings nicht erreicht. Die von Dr. Ebert entwickelten Ansätze könnten hier ein vielversprechender Lösungsweg sein. In Anerkennung seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen im Bereich digitaler Gesundheitsinterventionen wurde er bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Charlotte- und Karl-Bühler-Preis 2016 für ein Forschungsprogramm, das umfangreichen Einfluss auf die Psychologie und angrenzende Fachgebiete genommen hat.
Kurzzusammenfassung
„The Edge of Reason” beleuchtet zentrale Fragestellungen zur Verknüpfung von Vernunft-, Risiko- und Wahrscheinlichkeitsdiskursen an Beispielen amerikanischer Erzählliteratur. In einer Phase intensiver sozialer und wirtschaftlicher Veränderung vor dem Bürgerkrieg lässt sich in den USA eine interessante diskursive Verschiebung beobachten, innerhalb derer Zukunft zunehmend als offen und kontingent begriffen wird. Neue Semantiken von Risiko und Wahrscheinlichkeit entwickeln sich zeitgleich mit einem steilen Aufstieg fiktionaler Erzählliteratur, und insbesondere der Roman erobert den nationalen Printmarkt. „The Edge of Reason” untersucht, welche Funktion Literatur in gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen gewinnt und wie sich das Nachdenken über erzählerische Form zu einer Zeit entwickelt, in der statistische und probabilistische Logiken Einzug in Alltagskommunikationen und –praktiken halten. Lektüren ausgewählter kanonischer Texte von Edgar Allan Poe, Nathaniel Hawthorne, Frederick Douglass und Herman Melville zeigen literarisches Erzählen als zentrale Kulturtechnik einer Epoche, die den Grundstein für unser heutiges Verständnis von Risiko und Spekulation, von Zukunftsungewissheit und Handlungsfolgenabschätzung und von der Vorstellung eines selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Individuums legt.
2017
Habilitation:
Vorbereitung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bzw. nicht deutscher Erstsprache auf den Übergang Schule – Ausbildung/Beruf: Grundzüge einer Didaktik und Pädagogik der Transition
In der Habilitationsschrift wird untersucht, wie der Übergang von der Schule in die Ausbildung oder den Beruf für Menschen mit Migrationshintergrund erleichtert werden kann. Dabei ist von der Tatsache auszugehen, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund seltener eine betriebliche Ausbildung beginnen als jene ohne Migrationshintergrund. Dies gilt vor allem, wenn kein Schulabschluss bzw. maximal der Hauptschulabschluss erreicht wurde bzw. die Zuwanderung nach Deutschland erst in höherem Alter erfolgte.
Mit der Bewältigung des Übergangs sind Entwicklungsaufgaben auf der individuellen Ebene, auf der interaktionalen Ebene (Aufbau neuer Beziehungen, Verinnerlichung neuer Rollen und -erwartungen) und auf der kontextuellen Ebene (Integration unterschiedlicher Lebensbereiche, evtl. die simultane Bewältigung mehrerer Übergänge) verbunden. Im Zusammenhang damit müssen die Jugendlichen Kenntnisse aus dem Bereich der Arbeits- und Berufsorientierung erwerben. Vergleicht man die sprachlichen Anforderungen in der allgemeinbildenden Schule mit den Anforderungen in der Ausbildung, kommt man zu dem Ergebnis, dass die schulischen Textsorten auf die häufig standardisierten, situationsgebundenen, oftmals an Formulierungsroutinen gebundenen und zur Lösung konkreter Probleme erfolgenden Schreibanforderungen der Ausbildung nicht hinreichend vorbereiten. Zweitsprachlernende müssen gegebenenfalls parallel zu diesen Aufgaben an der Weiterentwicklung der Lernersprache arbeiten.
Um den Übergang durch eine Didaktik der Transition zu erleichtern, muss man in der Schule die Beratung im Hinblick auf die Berufsorientierung ausbauen, auf die sprachlichen Anforderungen der Beruflichen Schulen und die dort etablierten Unterrichtssettings gezielter vorbereiten, den Schülerinnen und Schülern durch kontinuierliche Fehleranalysen und konkret formulierte Rückmeldungen den Bedarf der Weiterentwicklung der Lernersprache aufzeigen und durch schriftlich zu bewältigende, die tiefe Verarbeitung der Unterrichtsinhalte erfordernde Aufgabenstellungen zum stetigen und kumulativen Aufbau bildungs- und fachsprachlicher Kompetenzen beitragen.
Zu diesem Ergebnis kam Thomas Grimm aufgrund seiner empirischen Untersuchungen mit Hilfe eines Datensatzes aus dem Übergangsmanagement einer westdeutschen Großstadt (n=881), in welchem alle Hauptschüler erfasst sind, die nach der neunten bzw. zehnten Klassenstufe die Schule verlassen (mit Abschluss und Übergang). Ferner wurden Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie mit Lehrkräften und anderen Experten geführt und ausgewertet.
Die Untersuchung zeigt, dass die Übergangsmuster nach der neunten und zehnten Klasse für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund nicht gleich ausfallen, die Unterschiede sind signifikant, aber insgesamt gering. Ferner stellt sich heraus, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund (insbesondere selbst eingewanderte) häufiger die Übergangsberatung in Anspruch nehmen. Zudem weisen sie z.T. spezifische Beratungsbedarfe auf. Es zeigt sich weiterhin, dass viele Schüler unzureichende Begründungen dafür anführen, nicht mehr an der Weiterentwicklung der Lernersprache arbeiten zu müssen.
Habilitation:
Perspektiven personaler Identität in der christlichen Spätantike und bei Friedrich Nietzsche
Die kumulative Habilitation untersucht das Themenfeld „personale Identität“ historisch in der (Spät-)Antike (Augustinus und Boethius) sowie bei Nietzsche und systematisch unter dem Aspekt der Relevanz für eine Philosophie der Lebenskunst.
Die antike Philosophie behandelt die Frage „Wer bin ich?“ im Kontext ihres Selbstverständnisses als Lebensform und ihrer eudaimonistischen Intention, die das gute Leben im Blick hat. Personale Identität ist ihr gemäß etwas Wünschenswertes, das in Tätigkeiten aktiven Selbstvollzugs allererst konstituiert werden muss. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Betonung innerpsychischer Kohärenz und Harmonie (das sokratische „Nicht-mitsich- selbst-im-Widerspruch-Stehen“) sowie biografischer Kontinuität und Gleichförmigkeit. Die Realisierung beider ist Gegenstand einer philosophischen epimeleia tês psychês (Seelsorge).
Insofern die therapeutische Ausrichtung der antiken Philosophie bei den christlichen Denkern der Spätantike mit einem religiös fundierten Anliegen um das spirituelle Wohl (Seelenheil) verbunden ist, wurde im Rahmen einer interdisziplinär orientierten Untersuchung ebenso auf philosophische wie auf theologische und psychologische Konzepte zurückgegriffen.
Die Verknüpfung spätantiker christlicher Modelle personaler Identität mit den Überlegungen Nietzsches ergibt sich insofern, als der Altphilologe und Pastorensohn Friedrich Nietzsche sowohl mit den antiken Texten wie auch mit deren christlicher Rezeption vertraut war und die eigene Philosophie ausdrücklich als Kontrastmodell sowohl zum Platonismus als auch zum Christentum verstand – und Augustinus wie Boethius sind platonisierende christliche Denker par excellence. Darüber hinaus ist die Frage nach der Einheit bzw. Fragmentierung der Person ebenso ein zentrales Thema bei Nietzsche wie bei den spätantiken Philosophen.
Augustinus erörtert die Problematik innerseelischer (Dis-)Harmonie und einer gelingenden Identitätskonstitution sowohl in Begriffen eines geeinten bzw. gespaltenen Willens als auch im Rahmen seiner Emotionstheorie sowie seines Tugendkonzepts.
Der Beitrag zu Boethius intendiert den Nachweis der These, dass Boethius in der Consolatio Philosophiae auf der Grundlage seiner Persondefinition in „Contra Eutychen et Nestorium“ unter dem Stichwort „Selbsterkenntnis“ ein normatives Konzept personaler Identität präsentiert und dieses in Gestalt einer narrativen Identitätskonstruktion ausarbeitet. Dabei zeigt sich, dass dieses Konzept personaler Identität sowohl (neu-)platonisch als auch aristotelisch und darüber hinaus auch christlich fundiert ist und somit den synthetisierenden Kongruenzvorstellungen des Boethius (Platon = Neuplatonismus = Aristoteles = Christentum) entspricht.
Nietzsche problematisiert ähnlich wie Augustinus vor allem das Phänomen eines gespaltenen und in sich zerrissenen Selbst. Grundlage seiner Analysen ist sein Konzept der Seele als „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ sowie sein darauf basierender erkenntnistheoretischer Perspektivismus. Unter der Prämisse eines grundsätzlich plural und heterogen verfassten Selbst ist die Herstellung innerpsychischer Einheit eine permanente Anforderung an die Person. Gegenstand der Analyse sind die „höheren Menschen“ in „Also sprach Zarathustra“, das von Nietzsche inspirierte Motiv einer fragmentierten Persönlichkeit in Hermann Hesses „Steppenwolf“ sowie eine Überprüfung der These Nietzsches von einer „Vertiefung der Seele“ im Rahmen der Moralentwicklung von Homer über Platon bis zum Christentum.
2016
Habilitation:
Discourses of Crisis and Legitimacy in Atlantic American Narratives of Piracy, 1678-1865
Die Habilitation untersucht die Konstruktion der Figur des Piraten in einer transatlantisch geprägten nordamerikanischen Literatur und Kultur und fragt, auf welche Weise das kulturelle Imaginäre das ambivalente Potenzial des Piraten als Identifikations- und Alterisierungsfigur ausgelotet hat, um Vorstellungen von Legitimität und Illegitimität in verschiedenen diskursiven Kontexten zu artikulieren und zu verhandeln.
Historisch waren Piraten durch ihre zweifelhaften nationalen, ethnischen und sogar geschlechtlichen Affiliationen und wechselnden Loyalitäten gekennzeichnet. Weil sie sich kategorisch nicht zuordnen ließen, wurden Piraten als mobile Figuren dazu verwendet, die Legitimität konkurrierender bzw. in die Krise geratener Identitätskonstruktionen symbolisch zu verhandeln (z. B. britische Kolonie versus unabhängige Republik, sklavenfreie versus sklavenhaltende Staaten). Die Studie versteht Piraterie als facettenreiche diskursive Kategorie, die sich in einem Kontinuum zwischen Propagierung (post-)kolonialen Abenteuers und Ausbeutung einerseits und kritischem Kommentar zu Gewalt und Unterdrückung andererseits bewegt. Piratinnen und Piraten tauchen in einer Reihe populärer Genres in der atlantischen Welt dieser Periode auf – von Gerichtsreportagen und Galgenpredigten bis zum historischen Roman, vom „Groschenheft“ zur satirischen Karikatur. Die Studie liest diese Texte als symptomatisch für den Stellenwert kultureller Aushandlungsprozesse in der Bewältigung von (zeitgenössisch konstatierten) Krisenszenarien. Sie zeigt auf, wie der Pirat während Krisenzeiten mit (ent)legitimisierender Bedeutung aufgeladen wurde, um damit, wie populärkulturelle Texte von einem Publikum jenseits gesellschaftlicher Eliten forderten, dringliche Legitimitätsfragen anhand dieser Figur zu reflektieren – und damit auch an Debatten um die amerikanische Identität und ihre Zukunft teilzunehmen.
Habilitation:
Studien zur Nominalbildung des Indogermanischen
Die Habilitationsschrift besteht aus drei Kapiteln, in denen das indogermanische Nomen (Substantiv und Adjektiv) erforscht wird. Teil der Arbeit sind u.a. Forschungsbereiche wie Etymologie (Wortherkunft und Wortgeschichte), Phonologie und Phonetik (Lautlehre) sowie Morphologie (Formenlehre, Wortbildung).
Im Fokus des ersten Kapitels stehen die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung der altgriechischen Vokabel kēla (Plural) „Pfeile, Geschosse“, deren früheste Belege sich in der Ilias finden, jenem homerischen Epos, das vom Trojanischen Krieg erzählt. Der Sprachvergleich macht es wahrscheinlich, dass kēla wohl ursprünglich „das aus Rohr Bestehende“ bedeutete und den Rohrpfeil bezeichnete. Es kann innerhalb des Griechischen mit dem Wort kalamos „Rohr, Schilf“ verbunden werden, das seinerseits mit deutsch Halm und lateinisch culmus „Halm, Stroh“ zusammengehört. Außerhalb des Griechischen ist kēla außerdem mit altindisch śara– „Rohr, Pfeil“ verwandt (altindisch r geht auf l zurück). Die Sprachgeschichte von kēla verrät also auch etwas darüber, wie die indogermanischen Völker Pfeile herstellten, nämlich aus Schilfrohr.
Das zweite Kapitel befasst sich mit dem indogermanischen Wort für „Schwester“, das als *swesor- rekonstruiert werden kann (der Stern kennzeichnet Formen als durch Rekonstruktion erschlossen). Es war die Vorform von z.B. altindisch svasar-, lateinisch soror, russisch sestra und auch deutsch Schwester. Hinsichtlich der Wortbildung und Bedeutung kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass sich das Wort aus zwei Bestandteilen zusammensetzt (*swe-sor- oder *sw-esor-). Dabei bedeutet *sw(e)- „eigen, verwandt“ o.ä. und *-(e)sor- „Frau, weiblich“, das in vokalloser Gestalt -sr- auch in *tri-sr-es verbaut ist, der femininen Form des indogermanischen Zahlworts für „3“. *swesor- bezeichnete dann zunächst die „weibliche Verwandte“ ganz allgemein und später erst – mittels einer Bedeutungsspezialisierung – die „Schwester“.
Ausgangspunkt des dritten Kapitels sind zwei indogermanische Laute, die gewöhnlich abstrakt als h2 und h3 geschrieben werden: h2 steht phonetisch wohl dem ch in deutsch Bach nahe; h3 hatte etwa die Aussprache von berlinerischem g in sagen. Basierend auf diesen phonetischen Ansätzen soll gezeigt werden, dass sich beide Laute in den indogermanischen Sprachen hinter n unter bestimmten Bedingungen zu g entwickeln konnten. Durch diesen Lautwandel, für den es in den Sprachen der Welt Parallelen gibt, ergeben sich für einige bislang unklare Wörter neue Deutungen. Ein Beispiel: Das altindische Wort śr̥ṅgam „Horn“ stammt aus einer lautlich älteren Form *k̂r̥ngom. Das gängige Wort für „Horn“ im Indogermanischen war dagegen *k̂r̥nom, was z.B. auch die Vorform von deutsch Horn ist und kein g enthält. Das g erklärt sich jetzt aber im Rahmen des angenommenen Wandels von nh2 zu ng. Die g-lose Form *k̂r̥nom „Horn“ lautete nämlich im Plural regulär *k̂r̥nah2 „Hörner“. Davon wurde eine neue Form *k̂r̥nh2-om abgeleitet, die sich schließlich zu *k̂r̥ngom weiterentwickelte.
2015
Habilitation:
Kulturpsychologie und Anthropologie der Religiösen Entwicklung
Mit seiner Habilitationsschrift betritt Lars Allolio-Näcke in verschiedener Hinsicht wissenschaftliches Neuland. Ist bereits die Kulturpsychologie im Allgemeinen eine wissenschaftlich junge Erscheinung im deutschsprachigen Raum, so kann die Religionspsychologie im Besonderen trotz einer längeren Geschichte auch nicht als etablierte Disziplin, schon gar nicht als psychologische, gelten. Schließlich bringt die Arbeit in eine fast ausschließlich in der praktischen Theologie geführte Debatte eine psychologische Position ein, die dort bislang fehlte.
Die Arbeit stellt die Frage, wie Religion im Menschen entsteht und sich entwickelt. Um diese Frage zu beantworten, prüft Allolio-Näcke zunächst kenntnisreich, differenziert und scharfsinnig die Potenziale der vorhandenen Entwicklungsmodelle. Aus den kritisierten Modellen entwickelt er dann Grundlinien, die es für die Konzeption einer Theorie religiöser Entwicklung zu berücksichtigen gilt, wie zum Beispiel den Entwicklungscharakter von Religion und die Verzögerung religiöser Entwicklung gegenüber der allgemeinen Intelligenzentwicklung.
In seinem eigenen Ansatz trennt Allolio-Näcke einen anthropologischen von einem psychologischen Entwicklungsprozess. Den Beginn der psychologischen Entwicklung setzt er mit der Entstehung und dem Gebrauch von Symbolen an und folgt damit dem Kulturpsychologen Ernst E. Boesch. Nach Piaget entwickeln sich alle Symbole vom Konkreten zum Abstrakten; nach Boesch werden sie aber gleichzeitig immer subjektiver, so dass sie sowohl Valenzen, Emotionen als auch Handlungssicherheit in sich binden. Religion stellt insofern kein in sich abgeschlossenes Handlungs- und Symbolsystem dar, weil alle Symbole dem gleichen Entwicklungsprozess unterliegen. Religiöse Symbole unterscheiden sich nur in ihrem zusätzlichen Transzendenzbezug von anderen Symbolen, in allen anderen Dimensionen ruhen sie auf der normalen (vorangehenden) Intelligenzentwicklung des Menschen. Durch diesen Transzendenzbezug aber erlaubt Religion eine Erfahrung, die ohne religiöse Symbole nicht zu haben ist.
Habilitation:
Afrikanische Theologie. Kulturwissenschaftliche Analysen und Perspektiven
Die Untersuchung widmet sich dem Thema Afrikanische Theologie und verfolgt das Ziel, einen systematischen und gleichzeitig am konkreten Gegenstand erläuterten Beitrag zur Debatte um die Interkulturelle Theologie zu leisten.
Einleitend zeigt Claudia Jahnel die zentralen Dimensionen der Bedeutung von Kultur auf und stellt die Rede von der afrikanischen Kultur als Produkt diskursiver Prozesse heraus. Dabei analysiert der erste Teil der Arbeit zum einen den bislang kaum untersuchten wechselseitigen Zusammenhang zwischen afrikanischer Philosophie und Theologie. Zum anderen gibt er einen Einblick in die afrikanische Theologiegeschichte, der durch seine konsequente Orientierung am Kulturdiskurs besticht.
Der zweite Teil bildet das materiale Zentrum der Studie. Er untersucht die Konstruktion der grundlegenden thematischen Kategorien von Kultur – Zeit, Raum und Körper – durch die afrikanische Theologie: In Aufnahme einschlägiger kulturwissenschaftlicher Studien wird aufgezeigt, wie Zeit- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der afrikanischen Theologie eingebettet sind in einen Diskurs, der westlich-kolonial dominiert wurde, aber gleichwohl in der Begegnung mit einheimischen Akteuren und ihren Interessen verflochten ist. Mit dem Thema Raum und den Raumkonzeptionalisierungen afrikanischer Theologie wird ein zentrales kulturwissenschaftliches Thema der letzten Jahre aufgenommen, das unter den Begriffen Territorialität, Grenzen oder Ethnoscapes nicht nur theoretische, sondern höchst aktuelle, politische Bedeutung hat. Schließlich werden Körperdiskurse innerhalb afrikanisch-theologischer Diskurse analysiert. Sie stehen in der Spannung zwischen materieller und diskursiver Körperverfasstheit und schließen die Verletzlichkeit des Körpers, Gender-Konstruktionen, Verkörperungspraktiken, moralisch gesteuerte Identitätspolitiken sowie Personen- und Gemeinschaftsverständnis ein.
Der dritte Teil fokussiert auf Fragen der Agency sowie auf das Problem der Kulturhoheit in der afrikanischen Theologie. Vor dem Hintergrund der Einsichten von Edward Said, Homi Bhabha u.a. werden Ansätze beleuchtet, die angesichts kolonialer und postkolonialer Kultur-Vernichtung die Handlungsmacht afrikanischer Akteure akzentuieren. Innovative Perspektiven für die Interkulturelle Theologie beschließen die Untersuchung.
Die Arbeit besticht durch ihren systematisiert interdisziplinären Zugang, mittels dessen herkömmliche Wissensordnungen und Festschreibungen aufgebrochen werden. Afrikanische Theologie tritt als Produkt einer Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte mit anhaltender, wechselvoller Dynamik und umkämpfter kultureller Deutungsmacht hervor. Zugleich greift die Untersuchung innovativ in die aktuelle Diskussion um die Neugestaltung der Interkulturellen Theologie ein und leistet einen wesentlichen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Verortung dieser theologischen Disziplin als kritische und orientierende Wissenschaft.
2014
Habilitation:
Zeit und Form – Spiegelungstechniken in der Film- und Videokunst 1963-2013
Die Untersuchung widmet sich der Zeitstruktur der künstlerisch ambitionierten Film- und Videokunst, einsetzend mit dem Initialwerk Nam June Paiks aus dem Jahre 1963 und endend in der Gegenwart. Die als repräsentativ erkannten Artefakte werden nicht nur kunsthistorisch gewürdigt, sondern sinnerhellend auch zu medientheoretischen, musikalischen, neurowissenschaftlichen, philosophischen Diskursen in Relation gesetzt.
Die Arbeit erörtert signifikante Werke nach verschiedenen Gesichtspunkten. Der erste Abschnitt trägt den Titel „Bild und Bewegungsbild“ und behandelt verschiedene Kameraeinstellungen, etwa jene, die sich der ästhetischen Qualität eines statischen Bildes nähern, aber auch „Bildabfolgen“. Zu ihnen werden Arbeiten gezählt, die über den Weg der Wahrnehmungstäuschung aufeinander folgende Momente als Handlungsabläufe suggerieren, oder Verfahren, die einen Film – wie etwa Hitchcocks „Psycho“ – durch eine extreme Verlangsamung der Bilderfolge zu einer Reihe von Standbildern desintegrieren.
Ein zweiter Teil widmet sich speziell den Verlaufsformen, darunter etwa „rückläufigen Figuren“ analog zur musikalischen Form des Krebsganges, sowie der Anwendung des aleatorischen Prinzips. Zu den speziellen Verlaufsformen zählen u. a. auch Endlosschleifen („Loops“), die auf ihre Bedeutung für Bewegungsmuster und entwicklungslogische Narrationen in einer zirkulären Struktur untersucht werden. Als Referenzen erscheinen z. B. die Minimal Music der 60iger Jahre (Philipp Glass) und die Entwicklungsdynamik eines Gilles Deleuze.
Der dritte Teil ist schließlich dem Verhältnis von Zeit und Raum gewidmet. Er verfolgt speziell mehrkanalige Film- und Videoinstallationen, wie sie sich u. a. in Panoramaansichten darstellen. Fortgesetzt werden die Ausführungen mit Darlegungen zu Versuchsaufbauten, genauer zu Demonstrationen des Spiels mit Rückkoppelungen. Dabei konnte es zu einer Annäherung an die kinetische Kunst eines Naum Gabo sowie zur Fluxus-Bewegung kommen. Wiederholt werden die Tendenzen zur Ikonologisierung vielfach schlichter Formbestände, die den Diskurs in der Video- und Filminterpretation bestimmen; sie werden aufgegriffen und zielführend vertieft.
Der virtuose strukturelle Aufbau der Untersuchung leistet eine erkenntnisfördernde Typologie der unterschiedlichen Avantgarde-Strömungen entlang der Achse der Zeitreflexion. Damit wurde ein substantieller kunsthistorischer und bildwissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung der Video- und Filmkunst der jüngsten Vergangenheit geleistet. Mit großer analytischer Schärfe und einer eingängigen Sprache jenseits aller Jargons gelang es, einen differenzierten systematischen Überblick über das anspruchsvolle Thema zu geben und völlig neue Betrachtungsperspektiven für diese rezente Kunstform zu eröffnen. Als Grundlagenwerk wird die Habilitationsschrift vor allem die Diskurse mit den Nachbarfächern Musik- und Medienwissenschaft nachhaltig befruchten.
Habilitation:
Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses
Die Arbeit untersucht die Entwicklung und Stabilisierung des Antisemitismus vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert anhand von antisemitischen Texten im deutschsprachigen Raum. Ziel der Arbeit ist es, das bisher in der Forschung erreichte Verständnis des antisemitischen Judenbildes zu verbessern. Zu diesem Zweck wird im Unterschied zu vielen anderen Arbeiten zum Thema das antisemitische Judenbild nicht isoliert untersucht, sondern im Kontext der Herausbildung einer modernen Sozialordnung und den damit verbundenen nationalen Selbstbildern. Die Arbeit zeigt, dass dem radikalen Ausschluss der Juden im modernen Antisemitismus derselbe sozialhistorische Prozess der Nationalstaatsbildung zu Grunde liegt, der auch zur Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert führt.
Nach einer Diskussion des Forschungsstandes, der Begründung des „historisch-wissenssoziologischen“ Zugangs zum Thema und der Einführung der für die weitere Untersuchung zentralen Begriffe und Methoden folgt der empirische Hauptteil der Arbeit. Zunächst wird die Entstehung der Frage nach der Gleichstellung von Juden und Christen als Bürger eines Staates untersucht, dann die frühen antisemitischen Reaktionen auf die Forderung nach Gleichstellung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Zentrum der Untersuchung bildet die Beantwortung der Frage, auf welche sozialstrukturellen Prozesse sich das antisemitische Judenbild und das ihm korrespondierende nationale Selbstbild zurückbeziehen lassen. Anschließend wird die Entwicklung des Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert als Prozess der Verfestigung typischer Muster des antisemitischen Judenbildes und des zugehörigen Selbstbildes beschrieben. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Typologie des modernen Antisemitismus.
Die Arbeit besticht durch die immense Kenntnis einschlägiger Literatur, ein intensives historisches Quellenstudium sowie die gelungene Synthese des historischen, ideengeschichtlichen und soziologischen Blicks auf die Entwicklung des modernen Antisemitismus. Sie verbindet in überzeugender Weise mehrere Ebenen des gesellschaftlichen Wandels, als dessen Bestandteil sie auch den Wandel eines religiös legitimierten zu einem national legitimierten Antisemitismus begreift. Sie geht den tragenden materialen Faktoren der Modernisierung europäischer Gesellschaften nach, zeigt die Repräsentationsweisen dieser Faktoren in der Begrifflichkeit, durch die sich die Gesellschaften als Nationalstaaten selbst beschreiben, um schließlich den Niederschlag dieser Prozesse im Wandel des Antisemitismus nachzuzeichnen. Damit kann sie diesen Wandel als einen zerstörerischen Bestandteil des Modernisierungsdiskurses aufzeigen. In diesem Sinne legt Weyand nicht nur eine sachlich und methodisch beeindruckende Abhandlung zum Problem des Antisemitismus vor. Seine Arbeit besitzt vielmehr eine weit darüber hinaus gehende allgemeinsoziologische, gesellschaftstheoretische Relevanz für die Klärung von komplexen sozialen Prozessen in der Langzeitperspektive.
2013
Habilitation:
Die Wahlplakate der Spitzenkandidaten der Parteien bei den Bundestagswahlen von 1949 bis 1987
Die dreibändige Arbeit bietet eine retrospektive Analyse der Porträtplakate der Bundesrepublik Deutschland von ihrer Gründung bis zur Wiedervereinigung. Als Quellenbasis dienen die Dokumente, die die werbenden Parteien zu den elf Wahlkämpfen in Archiven verwahren. Sie werden sämtlich als Ergebnis jahrelanger intensiver Archivrecherchen in einem Katalogband nach einer differenziert aufschließenden Maske vorgestellt bzw. in einem Textband nach verschiedenen Seiten methodisch sorgsam analysiert. Ein dritter Band enthält die Bildzeugnisse.
Eingeleitet wird die Untersuchung mit Definitionen der Begriffe „Wahlen“, „Parteien“, „Kanzlerwahl“ etc. sowie „Plakat“ als jenem Medium, in dem die politischen Aussagen der Parteien und ihrer Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers extreme Verdichtung erfuhren. Das anschließende Kapitel gibt einen Abriss über die Zugänge diverser Wissenschaften zum Thema Wahlwerbung. Dazu zählt auch die Kunstgeschichte, deren Kernkompetenz die Analyse historisch-politischer Zeugnisse und der mit ihnen verbundenen Bildstrategien ausmacht.
Danach widmet sich die Untersuchung der Historie des Porträtplakats vor 1949. Im Folgenden werden die 143 Plakate der Spitzenkandidaten der elf Bundestagswahlen eingehend untersucht. Ausführungen zur Organisation der Wahlkämpfe, den Strategien und Slogans schließen sich ebenso an wie Erörterungen zur Gestaltung der Bildmedien, ihren Herstellern und zur Finanzierung.
In einem resümierenden Großkapitel betrachtet Gerstl das westdeutsche Spitzenkandidatenplakat unter verschiedenen Gesichtspunkten. Diese Ausführungen leiten über zu einem spezifisch kunsthistorischen Kapitel, zur Ikonographie der Plakate und ihren Bildstrategien. Darauf folgen Darlegungen zur Typographie der Texte, zu den verwendeten Farben, den Parteiensignets sowie zur Rolle der Demoskopie und der Agenturen.
Die ausgezeichnete Arbeit stellt die Forschung zu Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland auf eine neue, breite und gesicherte empirische Grundlage. Dies geschieht nicht allein auf Basis der Erschließung und skrupulösen Aufbereitung des riesigen Quellenkorpus und der Bilddokumente, sondern auch durch die Verarbeitung der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlichster Fächer. Ihre Einsichten erfahren eine kritische interdisziplinäre Zusammenführung, die als Basis für weitere Forschungen dienen wird.
Habilitation:
Sensomotorik und sportliches Training
In ihrer kumulativen Habilitationsschrift setzt sich Astrid Zech vor allem mit Fragen übungs- bzw. trainingsbedingter Beeinflussbarkeit der sensomotorischen Kontrolle auseinander. Das sensomotorische System umfasst all jene Komponenten des menschlichen Organismus, die in Interaktion für die Erzeugung und Kontrolle motorischen Verhaltens von Bedeutung sind, also die entsprechenden Bestandteile des zentralen und peripheren Nervensystems sowie das Muskel-Skelettsystem. Infolge von zunehmendem Alter, Ermüdung, Verletzungen oder erkrankungsbedingt kann die sensomotorische Kontrolle verändert sein, so dass es zu Einschränkungen der allgemeinen körperlichen Funktionalität kommt. In der Konsequenz unterliegen betroffene Personen oftmals einem erhöhten Risiko für Verletzungen, Stürze oder Erkrankungen des Bewegungssystems.
Astrid Zech befasst sich in ihren Arbeiten mit Methoden, die auf eine vielfältige Stimulation peripherer sensorischer Wahrnehmungen und somit auf die Beeinflussung pathophysiologischer oder eingeschränkter Mechanismen der sensomotorischen Kontrolle abzielen. Ihre Untersuchungen richten sich einerseits auf das Feld des Leistungssports mit dem Problem der Prävention und Rehabilitation von Sportverletzungen und andererseits auf die Analyse von Übungs- und Trainingseffekten bei gebrechlichen alten Menschen. In beiden Fällen bewegt sie sich in Forschungsfeldern mit erheblicher praktischer bzw. klinischer Relevanz. Dabei vollzieht Astrid Zech eine methodisch aufwändige Aufarbeitung der aktuellen Evidenz für die Wirkungen sensomotorischen Trainings im Leistungssport.
Aus den weiteren in diesem Kontext initiierten, methodisch anspruchsvollen Interventionsstudien wurden erstmals ermüdungsabhängige Veränderungen der sensomotorischen Kontrolle nachgewiesen, die das erhöhte Risiko von Wiederverletzungen zum Ende von Wettkampfbelastungen hin erklären können. In Bezug auf den für alte Menschen wichtigen Erhalt der individuellen motorischen Kontrolle und der Mobilität befasst sich Astrid Zech einerseits mit der Entwicklung und Anwendung diagnostischer Verfahren zur Erfassung motorischer Funktionen, hier insbesondere der für Sturzprophylaxe und Alltag wichtigen Fähigkeit zur schnellen Produktion von Muskelkraft. Andererseits werden im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Studie die mittel- bis langfristigen Wirkungen von Trainingsinterventionen bei alten Menschen mit bereits reduzierten motorischen Funktionen untersucht.
In ihren Studien kann Astrid Zech zeigen, dass insbesondere eine vermehrte Stimulation posturaler Funktionen und neuromuskulärer Strukturen für die Verbesserung der sensomotorischen Kontrolle wirksam ist.