Publikation „Das Haus der Schreiberin“ – Charlotte Zweynert erforscht Geschlechterökonomien und Vermögen um 1800

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Charlotte Zweynert (Foto: privat)

Dr. Charlotte Zweynert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte und hat im Rahmen ihrer an der Leibniz-Universität Hannover entstandenen Promotion das Buch „Das Haus der Schreiberin. Geschlechterökonomien und Vermögen um 1800“ veröffentlicht. Forschungsfragen rund um Gender und Geld in einer Zeit des Umbruchs – klingt spannend. Im kurzen Interview stellt Charlotte Zweynert vor, warum sie dieses Thema gewählt hat und gibt Einblicke in das Buch.

Worum geht es im Buch „Das Haus der Schreiberin?“

Das Buch kann man auf zwei Ebenen lesen. Zum einen geht es um professionell schreibende Frauen um 1800, insbesondere um die Dichterin Anna Louisa Karsch (1722–1791), deren Tochter Caroline Luise von Klencke (um 1750–1802) und deren Tochter Helmina von Chézy (1783–1856). Alle drei Frauen waren literarisch tätig, getrennt bzw. geschieden und zogen ihre Kinder alleine groß. Das klingt kurios, aber sowohl der Frauenanteil unter den Autoren als auch die Anzahl von Scheidungen waren zu dieser Zeit nicht so gering, wie man heute vermuten könnte. Spezifisch an ‚meinem‘ Fall ist eher, dass die Autorinnen nicht aus vermögenden adeligen oder bürgerlichen Kontexten stammten und dass ihr Schreiben eher über weibliche und weniger über männliche Verwandtschaftszusammenhänge gefördert wurde.

Meine Leitfragen in der Arbeit sind, welche verschiedenen Vermögen die drei Frauen in diesen Zusammenhängen nutzten, um sich sozial und literarisch zu platzieren, und wie innerhalb der Familie über das Haus verschiedene Formen von Vermögen zwischen den Generationen aufgebaut und übertragen wurden.

Das führt zu der zweiten Ebene, auf der man das Buch lesen kann: auf die methodisch-theoretische. Durch die geschlechtergeschichtliche Perspektive und die Untersuchung von ‚vermögenswirksamen‘ Praktiken wird ‚Vermögen‘ als multidimensionales Analyseinstrument erarbeitet, das materielle, finanzielle, symbolische, soziale, handlungs- und wirkungsbezogene Aspekte umfasst und die Fragilität und Wandelbarkeit von Vermögen betont.

Das so aus den Quellen heraus entwickelte Vermögenskonzept erlaubt, Wirksamkeit von Frauen sichtbar zu machen, diese aber gleichzeitig in Verflechtung mit (ökonomischen, rechtlichen und sozialen) Diskriminierungspraktiken zu erforschen. So wird künftigen geschlechtergeschichtlichen Forschungen ein neues Analysekonzept zur Verfügung gestellt.

 

Was ist die sogenannte Sattelzeit und warum ist diese spannend?

Der Begriff „Sattelzeit“ wurde von dem Historiker Reinhart Koselleck geprägt. Er zielt auf den unter anderem durch die Französische Revolution und die Industrialisierung markierten Transformationsprozess von der ständischen zur modernen Gesellschaft und ist ungefähr zwischen 1750 und 1850 einzuordnen. Zahlreiche Grundlagen unseres heutigen politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses haben ihre Wurzeln in dieser Zeit. Das macht die Sattelzeit meiner Ansicht nach auch heute noch besonders relevant.

 

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse um 1800 waren eng mit einer Veränderung der Geschlechterordnung verknüpft. In dieser Zeit formierten sich private und öffentliche Sphären als voneinander getrennte Bereiche und in Verknüpfung damit binäre, anthropologisch basierte Vorstellungen von Geschlecht: Frauen und Männern wurden bestimmte, ‚von Natur aus‘ gegebene Eigenschaften zugesprochen. Diesen Zuschreibungen wurden gesellschaftliche Wirksphären zugeordnet: Männer = aktiv, gestaltend, vernünftig = Öffentlichkeit; Frauen = passiv, empfangend sowie emotional = privater, häuslicher Bereich.

Auch wenn in den Geschichtswissenschaften heute nicht mehr davon ausgegangen wird, dass diese Vorstellungen von Geschlechterrollen so auch in der Praxis deckungsgleich gelebt wurden, hatte die geschlechtliche Codierung von Öffentlichkeit und Privatheit weitreichende Folgen in Bezug auf die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen weit über die Sattelzeit hinaus bis in die jüngste Geschichte.

Genau das hat mein Interesse geweckt. Ich wollte ein Analyseinstrument  entwickeln, mit dem erforscht werden kann, inwieweit Frauen unter den Bedingungen der Umbruchszeit um 1800 die ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen überschritten und wie sie dabei gleichzeitig auf Grenzen ihres Geschlechts verwiesen wurden. Mit ‚Geschlechterökonomien‘ und ‚(Wirksamkeits-)Vermögen‘ habe ich Konzepte entwickelt, mit denen ökonomische und kulturelle Zugänge sowie Normen und Praktiken nicht als Gegensätze verstanden, sondern in gegenseitiger Verflechtung untersucht werden können.

 

Lässt sich ein Bezug zu heute herstellen?

Ja, da sehe ich mehrere Ansätze: Zum einen entstand das Buch unter dem Eindruck, dass wir heute selbst in einer umfassenden Transformationsphase leben. Ohne leichtfertig Vergleiche ziehen zu wollen, finde ich es spannend, zu fragen, welche Vermögen historische Akteurinnen und Akteure um 1800 nutzten, um mit dem epochalen Wandel, der oft verunsichernd war, umzugehen und diesen zu gestalten. Das im Buch entwickelte Konzept der (Wirksamkeits-)Vermögen kann nicht nur für die Sattelzeit, sondern auch für die Erforschung anderer Epochen ein nützliches Instrument darstellen.

Zum anderen kann man die These vertreten, dass in dem Maße, in dem die um 1800 entstandene Geschlechterordnung hinterfragt wird und an Selbstverständlichkeit verliert, auch stärker an dieser Ordnung festgehalten wird, was zu gesellschaftlichen Debatten und Spannungen mit aktuell offenem Ausgang führt.

Wenn in rechten und rechtsradikalen Diskussionszusammenhängen argumentiert wird, Frauen seien von Natur aus kümmernd und emotional und deswegen sei es ihre Aufgabe, im Privaten für Mann und Kinder zu sorgen und dies sei schon immer so gewesen, kann man dies aus Perspektive der Geschichtswissenschaft seriös und quellenbasiert zurückweisen.

Diese Geschlechterkonzepte prägten menschliches Zusammenleben in Europa nicht schon immer, sondern haben einen konkreten historischen Entstehungszeitraum in den Jahrzehnten um 1800. Die damals entstandenen und bis heute wirksamen Vorstellungen von Geschlecht sind damit weder zeitlos noch unveränderbar.

 

Welches Buch können Sie noch empfehlen, wenn man sich für das Thema interessiert?

 Simone Derix und Margareth Lanzinger (Hg.), Housing Capital. Resource and Representation, Jahrbuch für Europäische Geschichte/European History Yearbook 18 (2017).

 

 

Die Themenkomplexe des Buches gehören zu den wissenschaftlichen Schwerpunkten des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte von Prof. Simone Derix, an dem Charlotte Zweynert tätig ist. Prof. Derix forscht international renommiert zu Vermögen, Erben und Ungleichheit. Hervorzuheben ist aktuell das von ihr geleitete und unter der Mitarbeit von Lena Weller durchgeführte Forschungsprojekt „Vermögen als familiale Ressource. Erbpraktiken in Bayern“ als eines von zehn Teilprojekten im interdisziplinären bayerischen Forschungsverbund „Familienleben in Bayern – Empirische Einsichten zu Transformationen, Ressourcen und Aushandlungen (ForFamily)“: https://forfamily-forschung-bayern.de/projekte/erben-und-familie/