Welche Bedeutung hat Religiosität für geflüchtete Jugendliche?
Studie der Religionspädagogik zeigt, dass der Glaube zur Integration beitragen kann – Langzeitstudie startet im Herbst
Begegnungen mit fremden Kulturen sind häufig von Stereotypen geprägt – ganz besonders, wenn es um Geflüchtete und ihre Religionszugehörigkeit geht. Doch welche Bedeutung hat Religiosität tatsächlich für junge Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund und wie verändert sich diese, wenn sie länger in Deutschland leben? Dazu hat Prof. Dr. Manfred Pirner, Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik und Didaktik des Evangelischen Religionsunterrichts, in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg eine Studie durchgeführt, für die er mit seinem Team 45 junge Muslime, orthodoxe Christen und Jesiden aus Nürnberg, Leipzig und Berlin befragt hat. Die Studie wurde von der Staedtler-Stiftung finanziell unterstützt. Auf das Projekt wird aufgebaut und eine Langzeitstudie wird ab Herbst von der DFG gefördert.
„Wir haben festgestellt“, sagt Prof. Dr. Manfred Pirner, „dass im gesellschaftlichen Diskurs die Bedeutung der Religion für Geflüchtete gleichzeitig über- und unterschätzt wird. Überschätzt insbesondere, wenn es um den Islam geht, der häufig mit Extremismus verbunden und als integrationshinderlich angesehen wird. Andererseits wird die Bedeutung von Religion aber auch unterschätzt oder kommt kaum vor. Unser Anliegen war es daher, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Religiosität auch eine positive Seite hat; sie kann auch eine Ressource für Lebensbewältigung und Integration sein. Das lässt sich durch die Ergebnisse unserer Studie klar belegen.“
Studie: Wissen über andere Religionen trägt zu Offenheit und Toleranz bei
Die jungen Geflüchteten waren zwischen 13 und 24 Jahren alt und hielten sich zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 11 und 45 Monaten in Deutschland auf; sie kamen überwiegend aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Die Studie hat – wie bereits frühere Erhebungen – bestätigt, dass jugendliche Migranten sehr religiös sind. Während ihrer Zeit in Deutschland wurde nur bei sieben Teilnehmern der Glaube schwächer. Die anderen Befragten gaben je zur Hälfte an, dass ihr Glaube stärker oder anders geworden ist. In der religiösen Vielfalt Deutschlands ist einigen ihr Glaube bewusster geworden, andere gaben an, nun ohne sozialen Druck ihren Glauben freier ausleben zu können. Allerdings wünschten sie sich mehr Möglichkeiten, in ihrer neuen Heimat eine Moschee oder einen orthodoxen Gottesdienst besuchen zu können.
20 der Befragten wussten vor ihrer Ankunft in Deutschland kaum etwas über andere Religionen. Dass Menschen keinen religiösen Glauben haben, kann sich die Mehrzahl der befragten Geflüchteten nur schwer vorstellen. Nach längerer Zeit in Deutschland haben jedoch 25 von ihnen nicht-religiöse Freunde gefunden, was für einen Lernprozess spricht.
Leider erfuhr mehr als ein Viertel Diskriminierungen in der Schule, insgesamt fühlten sie sich aber offen aufgenommen.
Anschlussprojekt mit Längsschnittstudie
Die Pilotstudie hat erste Einblicke in die Bedeutung der Religiosität für geflüchtete Jugendliche gebracht, die zeigen, welches Potenzial Religion für die Lebensbewältigung und Integration hat. Prof. Dr. Manfred Pirner möchte hier anknüpfen und wird mit dem Projekt „Religion als Ressource und Risiko. Eine empirisch-longitudinale Erhebung der Bedeutsamkeit von Religiosität für die Lebensbewältigung und Integration geflüchteter Jugendlicher (ReReRi-L)“ in Kooperation mit Prof. Dr. Ulrich Riegel von der Universität Siegen eine Langzeitstudie durchführen.
Anhand seiner Ergebnisse möchte das Projekt unter anderem die Voraussetzungen verbessern, um Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund mit gezielten Bildungsangeboten besser gerecht werden und sie in ihrer Entwicklung besser fördern zu können.
Das Projekt wird im Herbst 2021 starten und von der DFG bis 2024 gefördert; zwei Promotionsstellen sind für drei Jahre bewilligt.