Lieben und Leben auf Distanz – die ‚Fernbeziehung‘ soziologisch betrachtet
Marie-Kristin Döbler hat für ihre Dissertation die Nicht-Präsenz in Paarbeziehungen untersucht
Als mit Beginn der Covid-19-Pandemie Länder ihre Grenzen schlossen, die Mobilität und generell soziale Kontakte eingeschränkt wurden, rückten Menschen ins Blickfeld, die davon besonders emotional betroffen waren: Paare, die räumlich getrennt leben. Bei einigen Paaren führte die Corona-Krise zur Beziehungskrise, die sie entzweite, andere hielten und halten weiterhin an ihrer Beziehung fest und es scheinen jene im Vorteil zu sein, die schon vor der Pandemie Erfahrungen im Umgang mit Nicht-Präsenz sammeln und Fähigkeiten entwickeln konnten, die der Distanzüberbrückung dienlich sind.
Physische Nähe gilt allgemein als Voraussetzung für ein Paar, doch schon seit vielen Jahren nehmen Fernbeziehungen bedingt durch die geforderte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt deutlich zu. Was also braucht es, damit ein Paar sich auch bei temporär vorhandener räumlicher Distanz als Paar fühlt und es auch bleibt? Dies hat Marie-Kristin Döbler vom Institut für Soziologie in einem Projekt für ihre Promotion untersucht und ihre Ergebnisse 2020 in dem Buch ‚Nicht-Präsenz in Paarbeziehungen. Lieben und Leben auf Distanz‘ veröffentlicht. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und deren soziale Auswirkungen erfahren Marie-Kristin Döblers Erkenntnisse neue Relevanz, denn soziale Kontakte und Distanz, aber auch der Umgang mit Nähe und die Frage, was lebendige Beziehungen ausmacht, sind deutlich ins Bewusstsein gerückt.
Marie-Kristin Döbler: „Das Thema erhält durch die Pandemie ungeahnte oder unfreiwillige Aktualität und viele der Ergebnisse und Erkenntnisse sind nun für eine noch größere Gruppe von Menschen relevant, lebensnah und anschlussfähig.“
Für ihre Studie hat sie zwölf Paare und sechs Einzelpersonen interviewt sowie einer Diskursanalyse von Zeitungs- bzw. Zeitschriftenartikeln vorgenommen. Allen Befragten gemeinsam ist, dass sie in einer funktionierenden Fernbeziehung leben und sich als Paar fühlen. Ebenso setzen sich auch alle mit den kulturell verankerten ‚Normal‘beziehungsvorstellungen sowie massenmedial verbreiteten Bildern von Fern- und Wochenendbeziehungen auseinander. „So einfach es auch klingt“, sagt Marie- Kristin Döbler, „das Paargefühl entsteht vor allem dadurch, dass sich Menschen in einer Fernbeziehung auch bei Abwesenheit des Partners wie ein Paar verhalten. Äußere Merkmale wie Ehe, Kinder, gemeinsamer Haushalt oder auch Besitz sind für die Wahrnehmung als Paar hingegen nicht so wichtig.“ Gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen sind für das Paarbewusstsein entscheidend und tragen auch dazu bei, dieses zu erhalten. Auch wenn die physische Distanz nicht bei allen willkommen ist, wird sie doch alltäglicher und auch diesen Gewöhnungseffekt beschreiben alle Befragten.
Vor- und Nachteile einer Fernbeziehung
Die Interviewten äußerten außerdem, dass die An- und Abwesenheit des Partners oder der Partnerin zu mehr Reflexion über die Beziehung führt. Hier kann vor allem Verunsicherung darüber, dass die Beziehung von den eigenen Idealen oder denen des Umfelds abweicht, dazu führen, dass die Interaktion als Paar einen hohen Stellenwert hat und sehr betont wird. „Eine Einsicht, die von allen Paaren geäußert wurde: Man muss allein sein können und auf eigenen Beinen stehen. Das sind Voraussetzungen, um eine Beziehung mit Nicht-Präsenz auf Dauer leben zu können“, erklärt Döbler. Obwohl meistens die Männer für ihre Karriere mobil sind, was alte Rollenbilder wiederaufleben lässt, bricht das Konzept der Fernbeziehung diese gleichzeitig wieder auf. Denn Frauen müssen alle Tätigkeiten, die anfallen, übernehmen und erkennen ‚selbst ist die Frau‘. Auch einen weiteren Gegensatz, den die physische Nicht-Präsenz hervorruft, konnte Marie-Kristin Döbler in ihrer Studie beobachten: Zwar widerspricht eine Fernbeziehung dem ‚klassischen‘ Bild einer glücklichen Beziehung, in dem sich die Beteiligten wünschen, zusammenzuleben. Jedoch hilft eine Liebe auf Distanz auch, unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse zu vereinen und ermöglicht Liebe und Karriere sowie ein lebendiges soziales Netzwerk und eine solide Beziehung.
Und was ist nun das Erfolgsrezept für eine Fernbeziehung? Medien, soziale Kontakt und paarinternes Wissen sind unverzichtbare Hilfsmittel und bestimmen, wie Paare die Herausforderungen einer Fernbeziehung meistern. Technische Möglichkeiten und Kommunikationsmittel sind hier entscheidend, jedoch helfen diese nur temporär und können Zeit, die man in Präsenz gemeinsam verbringt, nicht dauerhaft ersetzen. Diese ‚Kopräsenz‘ der Beteiligten muss zwar weder dauerhaft noch ununterbrochen, jedoch regelmäßig vorhanden sein. Wesentlich ist, den oder die andere kontinuierlich am Leben teilhaben zu lassen, in physischer Näher wie auch auf geographische Distanz, und in diesem Punkt sehen sich die Befragten den zusammenlebenden Paaren überlegen. Sie meinen, der Notwendigkeit bewusst zu sein, Teilhabe zu ermöglichen, an der Beziehung zu arbeiten und aktiv Präsenz herzustellen.
Was ist mit der Liebe?
„Von allen Befragten wurden Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung genannt, die für Beziehungen jeder Art gelten, in einer Fernbeziehung aber besonders Bedeutung haben, das sind Investition in und Engagement für die Beziehung, Vertrauen und Verlässlichkeit, Kommunikation und Austausch sowie Organisation und Planung.“ Und was ist mit der Liebe?
„Tatsächlich hat keines der Paare die Liebe als Voraussetzung dafür genannt, die räumliche Distanz zu meistern. Betrachtet man jedoch die vielen Facetten von Liebe und verengt den Begriff nicht unnötig auf die romantische Vorstellung davon, sieht man, dass die Befragten viele Dinge nennen, die man als Liebe deuten kann und nicht nur der Anfang einer Beziehung dadurch getragen wird, sondern auch der Verlauf. In diesem Sinne ist Liebe offenbar ebenfalls eine der Voraussetzungen für das Ent- und Fortbestehen von Paarbeziehungen – und dabei ist es ganz egal, ob mit oder ohne physische Distanz.“
Marie-Kristin Döbler begleitet das Thema weiterhin und führt kleinere empirische Erhebungen zu Beziehungen während der Corona-Krise durch.
Zum Buch „Nicht-Präsenz in Paarbeziehungen“, erschienen im Springer Verlag