30 Jahre Deutsche Einheit
Der Mauerfall 1989 machte es möglich: Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik bei und Deutschland war wiedervereint. Zum diesjährigen Jubiläum blickt Politikwissenschaftler Erik Vollmann darauf, wie Ost- und Westdeutschland in 30 Jahren zusammengewachsen sind und wie es heute um die Demokratie steht.
Wie vereint sind Ost- und Westdeutschland nach 30 Jahren?
Das vereinte Deutschland erscheint uns inzwischen selbstverständlich und wird allgemein befürwortet. Dennoch bleibt das Zusammenwachsen ein andauernder Prozess. 30 Jahre deutsche Einheit – das ist ein Jubiläum, bei dem es sich lohnt, zu feiern und gleichzeitig auf den Weg hinzuweisen, der noch vor uns liegt.
Vereint sind die Deutschen auf jeden Fall in der Einschätzung, dass die Wiedervereinigung ein prägender Moment in der deutschen Geschichte war. Für die Menschen in Ostdeutschland waren die Veränderungen, die mit der Wiedervereinigung kamen, jedoch deutlich größer als für die Menschen im Westen. Prinzipiell haben Menschen immer viele unterschiedliche Identitäten, die sie in sich vereinen. Viele Deutsche in Ost wie West fühlen sich beispielsweise mit der Nachbarschaft verbunden, fühlen sich als Bürger ihrer Stadt, ihrer Region und Deutschlands. In Ostdeutschland existiert aber eine zusätzliche Identitätsebene, die in den alten Bundesländern fehlt: Hier fühlen sich viele Menschen zunächst stärker mit Ostdeutschland verbunden als mit Gesamtdeutschland. Interessanterweise gilt das auch für junge Ostdeutsche ohne eigene DDR- Biografie.
Welche Erklärung gibt es dafür?
Dies hängt damit zusammen, dass viele Ostdeutsche sich bis heute als Bürger zweiter Klasse fühlen. Über alle Altersklassen hinweg sind sehr viele Ostdeutsche auch der Ansicht, nach der Wiedervereinigung übervorteilt worden zu sein. Obgleich froh über die anstehende Wiedervereinigung empfanden viele Ostdeutsche die radikalen Umbrüche in der frühen Nachwendezeit auch als Schock.
Bis heute sind deutlich mehr Ostdeutsche der Meinung, man hätte funktionierende Elemente der DDR-Politik nach 1990 im vereinten Deutschland übernehmen sollen. Dies lässt sich sicher nicht nur als „Ostalgie“ verkürzen. Vielmehr haben viele Ostdeutsche den Eindruck, der Westen interessiere sich nicht für sie. Das beginnt beim Umfang der DDR-Geschichte im Schulunterricht und endet bei der Wahrnehmung, die wirtschaftlichen und politischen Eliten würden bis heute vor allem aus dem Westen unseres Landes stammen.
Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung wünscht sich die Mehrheit der Ostdeutschen eine größere Anerkennung dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR den Zusammenbruch der ostdeutschen Diktatur friedlich herbeigeführt haben. Die westdeutsche Bevölkerung ist dagegen überwiegend der Meinung, der Westen verdiene mehr Anerkennung dafür, die Wiedervereinigung finanziert zu haben. Die junge Bevölkerung in beiden Landesteilen stimmt den Aussagen jeweils deutlich weniger zu. Die Wertung der Teilungserfahrung ist also auch eine Generationenfrage.
30 Jahre erscheinen eine lange Zeit, aber welche Prozesse dauern noch an?
Der vielgeforderten „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ sind wir in diesen dreißig Jahren ein großes Stück nähergekommen. Doch einige sehr materielle Unterschiede bestehen weiter: Das Wirtschaftsniveau der neuen Bundesländer hat sich insgesamt verbessert, liegt aber für alle Länder weiter unter dem Westniveau. Im Osten fehlen bis heute große mittelständische Unternehmen und Zentralen der größten deutschen Unternehmen. Die Einkommenslücke zwischen Ost und West besteht also weiter. Ostdeutsche verdienen im Schnitt 14 Prozent weniger, auch die Ersparnisse sind deutlich geringer. Das Rentenniveau Ost hinkt auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch hinterher. Bis 2025 soll die Angleichung abgeschlossen sein. Die Arbeitslosenzahlen in Ost und West nähern sich nach den harten Einschnitten der Markttransformation inzwischen ebenfalls an, wenngleich es mehr Langzeitarbeitslose in den neuen Ländern gibt.
Das gesamtdeutsche Wohlstandsniveau ist seit der Wiedervereinigung gestiegen, so auch das verfügbare Einkommen im Osten des Landes. Jedoch vergleichen viele Ostdeutsche ihre Situation nicht nur mit der eigenen Vergangenheit, sondern auch mit den alten Bundesländern: Bestehende Unterschiede in Tarifverträgen, Wochenarbeitszeiten, die überwiegende Abwesenheit von Konzernzentralen und wirtschaftlichen Eliten sind Ostdeutschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer schwerer zu vermitteln. So lässt es sich erklären, dass die Einschätzungen Ostdeutscher und Westdeutscher zum Stand der Einheit auseinandergehen.
Die sozio-ökonomische Lage ist aber differenzierter: Stärker als der Ost-West-Unterschied ist häufig der Abstand zwischen strukturstarken und strukturschwachen Gebieten in ganz Deutschland. Demnach steht der urbane Osten gar nicht schlecht da, doch der große Anteil ländlicher Gebiete reißt den Schnitt herunter.
Mit der Deutschen Einheit kam auch die Demokratie – wie stabil oder fragil ist die Demokratie heute?
Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR gibt es im Osten der Bundesrepublik noch immer eine höhere Skepsis gegenüber der Politik und den Leistungen der deutschen Demokratie. Der latente Vorwurf, der Osten sei nicht demokratiefähig, steht daher immer einmal wieder im Raum.
Funktionales Ziel und Stärke der Demokratie ist es ja, politisches Personal abwählen zu können, wenn man unzufrieden ist. Entsprechend sind Streit und unterschiedliche Ansichten nichts Schlechtes, sondern gehören zu Demokratie dazu. Wir stellen aber auch bestimmte Leistungsanforderungen an die Demokratie: Sie muss sich für uns „lohnen“ und zum Beispiel mit Wirtschaftswachstum, Sozialstaat, persönlichem Fortschritt einhergehen. Solange wir in einem Land leben, in dem die Demokratie als Staatsform wertgeschätzt wird und Unzufriedenheit sich nicht an demokratischen Prinzipien, sondern nur am „Output“ des Systems oder bestimmten politischen Akteuren festmacht, ist das vollkommen normal.
Aber wenn dauerhafte Unzufriedenheit dazu führt, dass sich Menschen insgesamt von der Demokratie abwenden, haben wir ein Problem. Die Demokratie als Staatsprinzip ist in Deutschland überall mehrheitsfähig, wenngleich sich der Osten hier skeptischer zeigt. Die Leistungen der Demokratie sind erwartungsgemäß deutlich umstrittener – in der gesamten Republik. In den neuen Bundesländern wird die Demokratierendite aber deutlich weniger gut beurteilt als im Westen. Hier und insgesamt ist der Osten nicht homogen. Wir sehen große regionale Unterschiede bei der Demokratieunterstützung.
Prinzipiell ist das für die Stabilität der Demokratie kein Problem: Der kritische Bürger, der die Demokratie befürwortet, wenngleich er mit den Leistungen der Politik unzufrieden ist, ist für die von Beteiligung lebende Demokratie sogar förderlich. Problematisch wird aber ein dauerhaftes Gefühl des „Abgehängt-Seins“, wenn es dazu führt, dass die Demokratie als solche abgelehnt wird. Diesem Gefühl sollte entgegengewirkt werden.
Wie kann man das tun?
Es ist nötig, Demokratie besser noch als bisher zu erklären und systematisch politisch zu bilden. Demokratie muss sich erklären, für sich werben und Konflikte aushalten. Wenn eine Gesellschaft Freiheit, Vielfalt und Komplexität – ihrerseits Merkmale nicht nur jeder funktionierenden Demokratie, sondern moderner Gesellschaften überhaupt – nicht nur aushalten, sondern konstruktiv gestalten soll, muss man sie darauf vorbereiten – und zwar von Kindesbeinen an. Diese Fähigkeiten entwickeln sich nicht von allein. Demokratie muss auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung erklärt und gelernt werden – im Westen wie im Osten der Republik.
Vielen Dank für das Interview!
Erik Vollmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und Politische Ökonomie. Zu einem seiner Forschungsschwerpunkte Demokratietheorie hat er unter anderem in der Zeitschrift „Bürger und Staat“ die Demokratieunterstützung in Ost und West analysiert.