Doktorandin der Soziologie forscht zum Thema Organspende
Das Thema Organspende sorgt immer wieder Schlagzeilen und kontroverse Diskussionen, selbst in politischen Debatten wird das Thema hochemotional behandelt. Neben Medizin, Ethik und weiteren Fachgebieten beschäftigt sich auch die Soziologie mit der Organspende. Annerose Böhrer ist Doktorandin am Institut für Soziologie und untersucht in ihrem Dissertationsprojekt, wie die Möglichkeit, Organe in einen anderen Körper zu verpflanzen, kulturell verarbeitet und eingebettet wird. Dabei verfolgt sie vor allem die Spur eines besonderen Objekts: dem Organspendeausweis.
Das Dissertationsprojekt wird derzeit gefördert durch Stipendienprogramm zur „Realisierung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ (FFL) und ist assoziiert an das DFG-Forschungsprojekt „Ich möchte lieber nicht“. Das Unbehagen mit der Organspende und die Praxis der Kritik.
Am 16. Januar 2020 hat der Bundestag für die erweiterte Zustimmungslösung abgestimmt und somit beschlossen, eine moderate Reform der Organspenderegeln umzusetzen. Wie bisher wird nur zum Organspender, wer explizit seine Zustimmung gegeben hat. Neu ist, dass alle zehn Jahre eine aktive Abfrage bei den Bürgern erfolgen soll, etwa bei der Verlängerung des Personalausweises. Zuvor war die doppelte Widerspruchslösung gescheitert, bei der zukünftig jeder als Spender gelten sollte, außer man widerspricht explizit.
Wie Annerose Böhrer das Ergebnis der Abstimmung und die gesellschaftliche Diskussion wahrnimmt, erzählt sie im Interview.
Frau Böhrer, warum ist die Entscheidung gegen die Widerspruchslösung gefallen?
Ich denke, die Skepsis richtet sich gegen die Änderungen im Verfahren der Spenderrekrutierung und Unsicherheiten darüber, wie die Zustimmung der Verstorbenen als gesichert gelten kann. Wichtig ist, dass es sich nicht um eine Absage an die Organspende handelt, die ja breite Unterstützung findet.
Die Debatte verweist auch auf grundlegendere Fragen: nämlich, wie wir als Gesellschaft mit Körper und Tod umgehen. Die Entscheidung im Bundestag zeigt, dass eine Mehrheit den Fokus weiterhin auf aktiver Selbstbestimmung sehen möchte und dass die Widerspruchslösung als Einschränkung dieser Autonomie verstanden wurde. Ob diese die Zahl der Spender*innen erhöhen würde, ist zudem umstritten.
Warum haben nur wenige Menschen in Deutschland einen Organspendeausweis, obwohl Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen Organspende befürworten?
Einen Organspendeausweis zu „haben“ ist nicht damit gleichzusetzen, Organe zu spenden. Zum einen ist der unumkehrbare Ausfall der Hirnfunktion, der sogenannte Hirntod, auf einer Intensivstation unter ärztlicher Beobachtung ein relativ seltenes Ereignis. Blickt man in die Statistiken der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), sind es nur etwas mehr als 1000 Menschen pro Jahr, die überhaupt als potenzielle Spender*innen in Frage kommen, ganz unabhängig von der Spendenbereitschaft in der Bevölkerung. Zum anderen bietet der Organspendeausweis verschiedene Auswahlmöglichkeiten, neben dem „Ja“ auch die Möglichkeit, bestimmte Organe und Gewebe ein- oder auszuschließen, sich gegen Organspende zu entscheiden oder die Entscheidung einer ausgewählten Person zu überlassen. Der Organspendeausweis selbst – oder irgendeine andere schriftliche Äußerung, wie eine Patientenverfügung – spielt entgegen der häufigen Annahme meist kaum eine Rolle bei der Rekonstruktion des Patientenwillens in der konkreten Krankenhaussituation.
Welchen Zweck erfüllt er dann?
Er ist ein Objekt, das das Thema Organspende in unsere Alltage und privaten Haushalte trägt, Menschen anregen soll, über das Thema nachzudenken oder zu sprechen. Wie viele Menschen einen Organspendeausweis haben, ist also gar nicht so ausschlaggebend, auch wenn dies im täglichen Sprachgebrauch oft als Metapher für die Spendenbereitschaft herangezogen wird. Und diese ist im Übrigen nicht gering, der Großteil der identifizierten potenziellen Spender*innen wird explantiert.
Wer oder was beeinflusst die gesellschaftliche Diskussion zum Thema Organspende?
In Deutschland bleibt die Debatte um das Thema Organspende lebendig, was sicherlich mit der Notwendigkeit der aktiven Zustimmung zusammenhängt, denn damit einher geht auch die Notwendigkeit, kontinuierlich über die Thematik zu informieren. Obwohl zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sich in ihren aktuellen Kampagnen um eine entscheidungsoffene Kommunikation bemüht, ist der Diskurs doch stark geprägt von emotionalisierenden Bildern und Geschichten und eindeutigen moralischen Anrufungen potenzieller Spender*innen. Allein Slogans wie „Organspende rettet Leben“ lassen streng genommen kein „Nein“ zu. Die Debatte um Organspende wird mit großer Vehemenz, oft auch Aggression geführt. Das vorrangige Thema ist Solidarität. Körperlichkeit und Sterblichkeit der Spender*innen und die Tatsache, dass es sich hier auch um eine so genannte „End-of-Life“-Entscheidung handelt, spielen oft gar keine so große Rolle. Auch die auf dem Organspendeausweis erwähnte Gewebespende erhält bislang wenig Aufmerksamkeit, obwohl für diese ganz andere Bedingungen gelten als für die Organspende. Neben Mediziner*innen und anderen professionellen Vertreter*innen des Transplantationssystems, sind verschiedene Gruppen von persönlich Betroffenen, v.a. transplantierte und wartende Patient*innen und deren Angehörige stark in den öffentlichen Diskurs involviert. So ist es nicht verwunderlich, dass es in öffentlichen Debatten oft zur Gegenüberstellung hypothetischer Szenarien von maximaler Betroffenheit kommt. Menschen, die unsicher sind bzw. nun auch Menschen, die sich für eine Zustimmungslösung ausgesprochen haben, sehen sich dann häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden den Tod anderer Menschen in Kauf nehmen oder gar verursachen, was so natürlich nicht haltbar ist.
Wie könnte man die Diskussion konstruktiver gestalten?
Häufig liest man die Forderung „Wir brauchen eine Kultur der Organspende“. Die Medizin ist jedoch nicht nur bei der Organspende auf den Einsatz körperlicher Produkte angewiesen. Möglich wäre meiner Ansicht nach auch, auf eine offenere Gesprächskultur zu setzen, die Organspende als eine von mehreren Optionen thematisiert, sich mit körpereigenem Material in ein solidarisches Gesundheitssystem einzubringen, von dem wir alle profitieren (wollen). Letztlich geht es ja grundlegend um ein Körperverständnis, das von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden muss. Menschen moralisch unter Druck zu setzen, so zeigen unsere Forschungen, ist dabei sicherlich nur teilweise zielführend, denn sich solidarisch zeigen und helfen wollen die meisten, nur bei wenigen gibt es aus verschiedenen Gründen eben Einschränkungen.
Vielen Dank für das Interview!