VW-Stiftung fördert Symposium zum Thema »Dimensionen des Lesens«
Hintergrund und Ziele der Veranstaltung
Mit Lesen wird typischerweise eine wertvolle Kulturtechnik und etwas intellektuell Aufwändiges in Verbindung gebracht. Es wird häufig mit Buchlesen und Buchnutzung gleichgesetzt; andere Lesemedien, -situatio-nen und -anforderungen bleiben in den üblichen Zuschreibungen unberücksichtigt oder werden graduell abgewertet. Menschen lesen jedoch nicht nur, wenn sie spezifische und eigens definierte Lesemedien wie Buch oder Zeitung nutzen: Schriftcodierte Zeichen präsentieren sich in allen täglichen Lebenslagen und auf allen erdenklichen Oberflächen, von Müslipackungen über Beipackzettel, Speisekarten, Fahrpläne, Produkt-beschreibungen, Informationstafeln, Kleidung und E-Mails bis zu WhatsApp-Nachrichten.
Um das Totalphänomen Lesen zu fassen und um für seine Ubiquität zu sensibilisieren, reicht der gerade im deutschsprachigen Raum stark literarisch-ästhetisch geprägte Lesebegriff nicht mehr aus. Mehr noch: Der print- und literaturgeprägte Lesebegriff ist angesichts des beträchtlichen Anteils von Menschen mit unzureichenden Lesekompetenzen unter Kindern, Jugendlichen und in der erwachsenen Bevölkerung geradezu kontraproduktiv, weil er den Erwerb von Lesekompetenz einer bildungsprivilegierten und kulturaffinen Be-völkerungsschicht vorzubehalten scheint.
Das Symposium erschließt Lesen als vielschichtiges Phänomen. Es bringt Fachexpert/innen und Nachwuchswissenschaftler/innen zusammen und stellt die folgenden Fragen in den Mittelpunkt ihres Austauschs:
- Worin bestehen die spezifischen Funktionen und Leistungen des Lesens und können sie durch andere Kommunikationsformen und Signalsysteme überhaupt ersetzt werden?
- Weshalb wird angesichts der Omnipräsenz von Schriftzeichen in der alltäglichen Lebenswelt die gesellschaftliche Vorstellung vom »richtigen« Lesen so oft auf die Buchlektüre reduziert?
- Welche Wertzuschreibungen an die Kulturtechnik Lesen sind in der Gesellschaft feststellbar? Wie wird Lesen bewertet mit Blick auf individuelle Leseanforderungen, auf unterschiedliche (Lese-) Medien, aber auch auf demokratische Willensbildungsprozesse?
- Welchen Traditionen und Normen unterliegt die aktuelle Ikonographie von Lesen? Welche Lesesituatio-nen und welche Leseatmosphäre werden in den gängigen Social Media-Plattformen wie YouTube, Instagram oder Pinterest dargestellt – und was bedeutet das für bildungspolitische Anstrengungen zur Förderung von Lesen, zur Alphabetisierung und Grundbildung?
- Welche ökonomische Dimension hat Lesen im modernen Wertschöpfungsgefüge? Welche bildungsökono-mischen Konsequenzen lassen sich beispielsweise erwarten, wenn sich gesellschaftlich eine breitere und alltagsbezogene Aufmerksamkeit für das Lesen in einem erweiterten, multimedialen und –modalen Sinne etablieren lässt.
Ziel des Symposiums ist es, Lesen als gesellschaftliches Totalphänomen sowie interdisziplinären Forschungsgegenstand differenzierter und klarer zu konturieren und aus der Engführung auf das »Lesen guter Bücher« herauszuführen. Zu den Ergebnissen soll ein Sammelwerk erscheinen, das Open Access in einem renommierten Verlag publiziert werden soll. Das Symposion dient darüber hinaus der Vorbereitung einer repräsentativen standardisierten Befragung und anschließenden qualitativen Analysen, die gesellschaftliche Wertzuschreibungen an das Lesen und unterschiedliche Lesemedien erfassen sollen. Bisher sind diese Wertzuschreibungen zwar punktuell sichtbar, bevölkerungsrepräsentativ aber kaum empirisch nachgewiesen.
Fachexpertise
Das Symposium bringt die fachliche Expertise aller zentralen Disziplinen zusammen, die sich mit dem Lesen beschäftigen. Dementsprechend nehmen ausgewiesene Wissenschaftler/innen aus dem In- und Ausland teil, die zu kognitionswissenschaftlichen Themen, zu Lesesozialisation, Lesedidaktik und –pädagogik, zu Fragen der Kommunikations- und Rezeptionsforschung, zu Ikonografie, kultur- und bildungssoziologischen sowie –ökonomischen Themen arbeiten.
Digitaler Wandel und für das Lesen relevante Aspekte bilden ein Querschnittsthema, das in allen Phasen des Symposiums als Realität vorausgesetzt und mitgedacht wird, um der (noch weitgehend) üblichen Kontrastierung von Lesen und Nutzung digitaler Medien entgegenzuwirken.